Philosophie als aktives Aneignen
Die ursprüngliche Bedeutung der Philosophie wird allgemein als „Liebe zur Weisheit“ verstanden, doch Wolfgang Schadewaldt schlägt in seinem Werk Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen eine andere Deutung vor: Er argumentiert, dass das Wort philosophein nicht einfach „die Weisheit lieben“ bedeutet, sondern vielmehr ein aktives Aneignen von Wissen beschreibt, ein bewusstes Streben nach Erkenntnis und Verstehen, das sich aus dem Staunen über die Welt und ihre Phänomene entwickelt. 1
Wenn das der Fall ist, welche neuen Einsichten ergeben sich für unser Verständnis des Philosophen? Es ist nicht klar, ob es sich dabei um eine Aufwertung oder eine Abwertung handelt.
Liebe, zum Beispiel, könnte in einem schwachen Sinn benutzt werden: "Ich liebe diese Gemälde." Was meinen wir wenn wir etwas so äußern? Vielleicht meinen wir einfach, dass wir vor diesem Gemälde stehen und es genießen. Oder vielleicht meinen wir, an dieses Gemälde zu denken. Aber was würde es bedeuten, sich dieses Gemälde wirklich „zu eigen zu machen“? Würde es bedeuten, jedes Detail so im Gedächtnis zu behalten, dass man es überallhin mitnehmen kann? Würde es bedeuten, ein eigenes Gemälde zu erschaffen, das darauf aufbaut?
Aus dieser Perspektive steht der Philosoph, der sich Weisheit aneignet, besser da als derjenige, der Weisheit lediglich liebt. Im ersten Fall verfolgt der Philosoph aktiv die Weisheit und macht sie sich zu eigen. Der Philosoph schätzt die Weisheit nicht nur hoch oder bewundert sie aus der Ferne, sondern er oder sie macht sie sich zu eigen.
Aber das wird der Liebe nicht ganz gerecht. Laut Jung ist die Liebe ein „Anthropomorphismus par excellence“ und ein grundlegender menschlicher Trieb, gleichrangig mit dem Hunger. Psychologisch fungiert sie sowohl als Beziehungsfunktion als auch als gefühlsbetonter Zustand. Dieser Trieb läuft stets Gefahr, mit dem Gottesbild zu verschmelzen.2 Im Fall einer romantischen Beziehung könnte eine solche Verschmelzung zu einer Katastrophe führen. Wie dieser Trieb nach dem Göttlichen aussieht, können wir in Rilkes Gedicht aus dem Stundenbuch sehen:
Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,
wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,
und ohne Füße kann ich zu dir gehn,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.
Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
und wirfst du in mein Hirn den Brand,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen.
Bezüglich romantischer Liebe könnte solche Haltung problematisch sein. Aber für den Philosophen ist sein Trieb nach Weisheit als Streben nach dem Göttlichen vielleicht etwas Begehrenswerteres – gewiss begehrenswerter als der Weisheitssammler, der Erkenntnisse anhäuft, Fragmente des Wissens an sich nimmt und sie sich aneignet. Wenn es ihm gehört, ist sein Ziel erreicht – nichts weiter. Es ist ganz anders bei einem Philosophen, der mit seinem ganzen Dasein nach Weisheit strebt.
Der Begriff philosophia und das Verb philosophein müssen als Bestandteile der Alltagssprache verstanden werden. Die früheste bekannte Erwähnung findet sich bei Herodot (I, 30), wo berichtet wird, dass Solon, nachdem er sein Gesetzeswerk in Athen vollendet hatte, auf Reisen ging „um der theoria willen“. Dabei bedeutet theoria nicht unsere heutige „Theorie“, sondern vielmehr eine „heilige Schau“ – die Art und Weise, wie ein Festgesandter den Olympischen Spielen oder einer anderen kultischen Veranstaltung beiwohnte.
Von hier aus entwickelte das Wort die Bedeutung eines freien, durch keine Verpflichtung gebundenen Beiwohnens, wobei es stets seinen festlichen und feierlichen Charakter behielt. Wenn es also heißt, dass Solon um der theoria willen die Welt bereiste, bedeutet dies, dass er dies in völliger Freiheit tat – nicht aus praktischen Gründen wie ein Kaufmann, sondern allein, um die Dinge zu betrachten. Er tat dies philosopheon, als Freund des Wissens – eine Bedeutung, die hier wohl intendiert ist.
Die gängige Deutung von philosophein als „Liebe zur Weisheit“ (sophia + philein) ist jedoch falsch, wie heute bekannt ist. Während philein durchaus „lieben“ bedeuten kann, hat es in vielen frühen und ursprünglichsten Verwendungen eher die Bedeutung von „sich aneignen“ oder „zu eigen machen“, ähnlich dem Pronomen sphos im Griechischen oder suus im Lateinischen. Bei Homer bedeutet philos konsequent „eigen“ – beispielsweise „die eigenen Hände“ statt „die geliebten Hände“.
Die Übersetzung von philos als „geliebt“, wie es etwa bei Voß mit „die liebe Pflegerin“ geschieht, führt zu einer völlig irreführenden Interpretation. Das Verb philosophein beschreibt somit ein aktives Bestreben nach Aneignung. Ein philosophos ist demnach jemand, der auf die Aneignung von Wissen ausgerichtet ist, im Sinne eines bewussten und zielgerichteten Strebens danach. Dies entspricht auch genau der Herodot-Stelle. In modernen Begriffen könnte man es so formulieren: Solon reiste in dieser freien Weise, um sich Wissen anzueignen – eine Fülle an erkannter Erkenntnis.Die «Liebe» ist aber andererseits ein Anthropomorphismus par excellence und, neben dem Hunger, die klassische psychische Triebkraft des Menschen. Sie ist, psychologisch gesehen, einerseits eine Beziehungsfunktion, andererseits ein gefühlsbetonter psychischer Zustand, der, wie ersichtlich, mit dem Gottesbilde sozusagen in eins fällt. Die Liebe hat unzweifelhaft eine triebhafte Determinante; sie ist Eigenschaft und Tätigkeit des Menschen, und, wenn die religiöse Sprache Gott als «Liebe» definiert, so besteht die große Gefahr, die im Menschen wirkende Liebe mit dem Wirken Gottes zu verwechseln.