Auszug
Wolfgang Schadewaldt: Philosophie als Alltagssprache
Der Begriff philosophia und das Verb philosophein müssen als Bestandteile der Alltagssprache verstanden werden. Die früheste bekannte Erwähnung findet sich bei Herodot (I, 30), wo berichtet wird, dass Solon, nachdem er sein Gesetzeswerk in Athen vollendet hatte, auf Reisen ging „um der theoria willen“. Dabei bedeutet theoria nicht unsere heutige „Theorie“, sondern vielmehr eine „heilige Schau“ – die Art und Weise, wie ein Festgesandter den Olympischen Spielen oder einer anderen kultischen Veranstaltung beiwohnte.
Von hier aus entwickelte das Wort die Bedeutung eines freien, durch keine Verpflichtung gebundenen Beiwohnens, wobei es stets seinen festlichen und feierlichen Charakter behielt. Wenn es also heißt, dass Solon um der theoria willen die Welt bereiste, bedeutet dies, dass er dies in völliger Freiheit tat – nicht aus praktischen Gründen wie ein Kaufmann, sondern allein, um die Dinge zu betrachten. Er tat dies philosopheon, als Freund des Wissens – eine Bedeutung, die hier wohl intendiert ist.
Die gängige Deutung von philosophein als „Liebe zur Weisheit“ (sophia + philein) ist jedoch falsch, wie heute bekannt ist. Während philein durchaus „lieben“ bedeuten kann, hat es in vielen frühen und ursprünglichsten Verwendungen eher die Bedeutung von „sich aneignen“ oder „zu eigen machen“, ähnlich dem Pronomen sphos im Griechischen oder suus im Lateinischen. Bei Homer bedeutet philos konsequent „eigen“ – beispielsweise „die eigenen Hände“ statt „die geliebten Hände“.
Die Übersetzung von philos als „geliebt“, wie es etwa bei Voß mit „die liebe Pflegerin“ geschieht, führt zu einer völlig irreführenden Interpretation. Das Verb philosophein beschreibt somit ein aktives Bestreben nach Aneignung. Ein philosophos ist demnach jemand, der auf die Aneignung von Wissen ausgerichtet ist, im Sinne eines bewussten und zielgerichteten Strebens danach. Dies entspricht auch genau der Herodot-Stelle. In modernen Begriffen könnte man es so formulieren: Solon reiste in dieser freien Weise, um sich Wissen anzueignen – eine Fülle an erkannter Erkenntnis.
Wolfgang Schadewaldt. Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978.