Symbole der Wandlung
Im Jahr 3025, nach den drei dunklen Zeitaltern der Menschheit, entdeckt eine Gruppe von Wissenschaftlern tief im Dschungel eine neue Affenart. Diese Affen zeigen merkwürdige Verhaltensweisen, darunter die Fähigkeit, Bilder zu zeichnen. Sie können nicht nur Bilder zeichnen, sie können die Bilder in eine Reihe gestalten, sodass sie eine Geschichte andeuten.
Nach vielen Jahren der Beobachtung entschieden sich die Wissenschaftler, ein Experiment auszuführen, das viele heutzutage für grausam halten: Sie entnahmen die Säuglinge unmittelbar nach der Geburt ihren Müttern und flogen mit ihnen an einen entfernten Ort. Auf diese Weise konnten sie feststellen, ob die Fähigkeit zu zeichnen angeboren war oder ob es nur eine einmalige Erscheinung war. Als die Säuglinge groß geworden waren, beobachteten die Wissenschaftler, dass die Affen nicht nur zeichnen konnten, sondern dass die gleichen Themen trotz der Isolierung erschienen – Themen wie die Symbole eine Zähnen in verschachtelten Kreisen.
Was bedeutet das? Verdient es ernsthafte Forschung – oder ist es bloß sinnlose Kritzelei? Und wichtiger noch: Wenn Affen solche Symbole hervorbringen, was hieße das für uns Menschen?
Symbole der Wandlung
Carl Jung hat diese Idee unter anderem in seinem Buch Symbole der Wandlung analysiert. Es ist ein Buch, Nach Jungs eigenem Eingeständnis, ist ein unvollkommenes Buch. Manchmal ist es erstaunlich schön, manchmal aber auch ein eintöniger Katalog von Mythen. Trotz seiner Mängel ist es jedoch ein lesenswertes Buch. Wie Joshua Reynolds über Rubens schrieb: „Nur die Werke von Männern des Genies, in denen große Fehler mit großen Schönheiten vereint sind, bieten einen angemessenen Stoff für die Kritik. Genie ist immer exzentrisch, kühn und wagemutig.“
Abgrenzung von Freud
Jung begann 1912 mit der Abfassung des Buches und überarbeitete es in den folgenden vierzig Jahren immer wieder. Es war eine Reaktion auf die „drangvolle Enge der freudschen Psychologie und Weltanschauung.“ Freuds Modell des Unbewussten war in einem persönlichen, individualistischen Rahmen verankert, der weitgehend von seiner Theorie der Verdrängung und dem Primat der Sexualtriebe geprägt war. Er betrachtete unbewusste Prozesse als Überreste persönlicher Erfahrungen und nicht als Teil einer größeren, gemeinsamen Struktur.
Jung hingegen hielt diesen individualistischen Ansatz für unzureichend. Er bemerkte zum Beispiel, dass in seiner Praxis dieselben Themen immer wieder auftauchten. Dies führte ihn zu der Überzeugung, dass es in der menschlichen Psyche Inhalte gibt, die allen Menschen gemeinsam sind. Dieses gemeinsame Material ist das „kollektive Unbewusste“, ein tiefer, gemeinsamer Vorrat an ursprünglichen Bildern und Mustern, der über die persönliche Geschichte hinaus ins Mythische und Archetypische reicht.
Das Bild des Rhizoms
Jung verwendet das Beispiel eines „Rhizoms“, um dieses Konzept zu erklären. Ein Rhizom ist eine Art Wurzelsystem von Pflanzen, das unterirdisch wächst und sich horizontal ausbreitet. Anders als eine einzelne, zentrale Wurzel besteht ein Rhizom aus miteinander verbundenen Wurzeln, aus denen neue Triebe und Pflanzen hervorgehen können. So ist es zum Beispiel bei Ingwer der Fall.
In Jungs Metapher stellt das Rhizom das kollektive Unbewusste dar. Das individuelle Bewusstsein ist nach Jung wie ein vorübergehender Trieb oder eine Blüte, die aus diesem verborgenen System hervorsprießt. Auch wenn wir uns selbst als voneinander getrennte Individuen wahrnehmen, werden unsere tieferen Gedanken, Träume und Instinkte von dieser gewaltigen, miteinander verflochtenen Wurzelstruktur der gemeinsamen Geschichte und Psychologie der Menschheit beeinflusst. Um uns selbst wirklich zu verstehen, müssen wir erkennen, dass unsere Gedanken, Instinkte und Verhaltensweisen nicht nur durch persönliche Erfahrungen, sondern auch durch dieses gemeinsame, zugrunde liegende System geprägt sind.
Die Seele braucht mehr als Medizin
Wenn es so etwas wie das kollektive Unbewusste gibt, dann reicht medizinisches Wissen allein nicht aus, um diese Muster zu erkennen und die individuelle Psyche zu verstehen; vielmehr ist eine umfassende Kenntnis der Mythologie, Religion, Literatur und anderer geisteswissenschaftlicher Disziplinen erforderlich. Dieser interdisziplinäre Ansatz war zwar in einem medizinischen Kontext unkonventionell, aber für Jungs Auffassung von Psychologie wesentlich, da sie sich mit der tieferen symbolischen Natur des menschlichen Geistes auseinandersetzen sollte.
Vom Symbol zum Mythos
Ein Weg, Zugang zu dieser Geschichte des menschlichen Geistes zu finden, besteht darin, den Mythos zu studieren. Mythen sind nicht einfach alte Geschichten oder primitive Erklärungen der Welt; sie sind Gefäße des kollektiven Gedächtnisses, die archetypische Muster tragen, die sich über Kulturen und Epochen hinweg wiederholen. Sich mit dem Mythos auseinanderzusetzen bedeutet daher, der tiefen, symbolischen Sprache zuzuhören, durch die die Menschheit seit jeher versucht hat, sich selbst zu verstehen.
Vielleicht sind selbst die verschachtelten Zahnkreise der Affen nichts anderes als solche archetypischen Bilder. Was würde geschehen, wenn diese Symbole so angeordnet wären, dass sie eine Geschichte erzählten? In diesem Moment würde sich das isolierte Bild zum Mythos entfalten: eine Abfolge von Symbolen, aufgeladen mit Bedeutung, die Muster widerspiegeln, die weit älter sind als die Geschöpfe, die sie gezeichnet haben. Eine solche Geschichte wäre nicht die Erfindung eines einzelnen Geistes, sondern das Hervortreten einer Stimme, die durch Generationen spricht.