Scheinbare Widersprüche in der Bibel
Als ich das Evangelium nach Matthäus heute Morgen las, stolperte ich über einen scheinbaren Widerspruch. In Matthäus 1,20 erscheint ein Engel dem Joseph um das Geburt Jesu zu verkunden,1 aber in Lukas 1,26 erscheint ein Engel Maria.2
Wie ist das miteinander zu vereinbaren?
Meine Professorin der Klassischen Philologie, Dr. C, hat etwas gesagt, woran ich immer denke: Wenn man über etwas merkwürdiges in einem Text stolpert, das erfordert unsere höchste Achtung, weil hier einen Spannungspunkt haben und möglicherweise einen entscheidenden Ort im Text. Früher würde ich immer denken, wenn ich etwas Merkwürdigem in einem Text begegnet, dass ich etwas nicht genau verstanden habe, oder dass der Autor einen Fehler gemacht hat. Diese Neigung habe ich immer noch, und ich muss ständig dagegen ankämpfen.
Natürlich handelt es sich hier nicht um einen einzelnen Text, sondern um eine Sammlung. Dennoch ist der Ansatz derselbe, da die Sammlung bewusst zusammengestellt wurde. Wenn wir einem Widerspruch in der Bibel begegnen, dann ist das der Ort, an dem Gott und die Evangelisten selbst uns zu besonderer Aufmerksamkeit auffordern wollen. Durch scheinbare Widersprüche kann mehr kommuniziert werden als durch einen einfachen Text.
Damit stehen wir vor der Frage: Warum berichtet Matthäus von Josephs Traum, nicht aber von Marias Begegnung? Augustinus bietet dazu eine Erklärung an: Matthäus habe einfach den Besuch des Engels bei Maria ausgelassen. Für ihn ist das kein Widerspruch, sondern eine bewusste Auswahl. Denn beide Evangelisten stimmen darin überein, dass Maria durch den Heiligen Geist empfangen hat:
Matthäus hat die Beschreibung des Besuchs des Engels bei Maria ausgelassen. Es ist eine Frage der Betonung: Matthäus möchte Josephs Tugend betonen; Lukas hingegen den Heiligen Geist und Marias Demut. Josephs Lage ist ganz anders als Marias; der Verdacht der Untreue ist offensichtlich. Gemäß Deuteronomium 22:23-24, konnte eine verlobte Frau, die als untreu befunden wurde, gesteinigt werden. Sein persönlicher Stolz kommt nicht in Betracht. Gewiss bemerkenswert.
Wenn diese Erklärung zutrifft, dann gibt es eine Zeitspanne zwischen dem Moment, in dem Maria es erfuhr, und dem Zeitpunkt, an dem Joseph es erfuhr. Wir wissen nicht, wie es für sie in diesem Zeitraum war, ob Joseph litt, ob Maria litt, während sie Joseph leiden sah. Maria muss also bewusst die Entscheidung getroffen haben, nichts zu sagen – vielleicht im Vertrauen darauf, dass Gott Joseph auf seine eigene Weise informieren würde. Sie folgt die Anweisung des Engels: "Fürchte dich nicht, Maria!".
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18 Die Geburt Jesu Christi geschah aber so: Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut war, fand es sich, ehe sie zusammenkamen, dass sie schwanger war von dem Heiligen Geist.
19 Josef aber, ihr Mann, der fromm und gerecht war und sie nicht in Schande bringen wollte, gedachte, sie heimlich zu verlassen.
20 Als er noch so dachte, siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sprach: Josef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen; denn was sie empfangen hat, das ist von dem Heiligen Geist.
21 Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden.
22 Das ist aber alles geschehen, auf dass erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht:
23 »Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben«, das heißt übersetzt: Gott mit uns.
24 Als nun Josef vom Schlaf erwachte, tat er, wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich.
25 Und er erkannte sie nicht, bis sie einen Sohn gebar; und er gab ihm den Namen Jesus. -
26 Und im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth,
27 zu einer Jungfrau, die vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß Maria.
28 Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!
29 Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das?
30 Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden.