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Auszug

Wolfgang Schadewaldt: Homer: Sich-Bemerkbarmachen des Logos im poetischen Wort

Homer ist für uns bedeutungsvoll, weil er uns Zeuge sein soll für das Sich-Bemerkbarmachen des Logos im poetischen Wort. Damit sind wir in einem Bereich, in dem das Wort noch nicht vornehmlich den Charakter des Begriffs hat, wenn auch im einzelnen durchaus Begriffe da sind, jedenfalls nicht den Charakter des sich als Begriff selbst begreifenden Begriffs, um es zugespitzt auszudrücken, sondern wo das Wort noch als Bild sıch verwirklicht. Nicht im Sinne des Malerischen, wie man im achtzehnten Jahrhundert von Homer als dem Maler-Dichter gesprochen hat, sondern es geht um die Weise, wie bei ihm ın eigentümlicher Weise gestalthaft da ist, was wir später als Begriff kennen. Zwischen Gestalt und Begriff besteht ın der alten griechischen Welt eine wunderbare Beziehung. Zunächst erscheint das später Begriffliche in Form von Gestalten, und lange nachdem das Denken herausgetreten ist aus dieser dichterischen Form, hat es immer noch die Kraft, auch wieder gestalthaft zu werden. Andererseits kann man auch gewisse Göttergestalten auf Begriffe bringen, Aphrodite etwa als die Liebe fassen, wie man sagt. Vgl. das Buch von W. F. Otto: Die Götter Griechenlands, wo die Gestalten ganz ernst genommen werden, nicht als Allegorien, aber in dieser eigentümlichen Sinnerfülltheit und »Bedeutung« im Goetheschen Sinne, daß sie auf etwas hindeuten. So meine ich in diesem Zusammenhang mit »Bild« nicht das, was phantastisch oder subjektiv-emotionell auf uns eindringt, sondern etwas, in dem sich das Wesen abzeichnet. In diesem Sinne sind wir mit der Dichtung im Bereich des Bildlichen und werden zu beobachten haben, wie sich das Sein des Seienden bildhaft ins Wort hinein bemerkbar macht.
Wolfgang Schadewaldt. Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978.